Letztes Jahr hat für mich richtig schlecht begonnen. Ich musste meinen Laden schließen, weil ich finanziell ausgeblutet war. Ich war emotional fertig und vermutlich als Konsequenz dessen bekam ich eine handfeste Grippe, die mich 6 Wochen lang lahm gelegt hatte. So lag ich denn wie ein fad und doof gekautes Kaugummi in die Ecke gespuckt da – und hatte viel Zeit zum Nachdenken. 

Am Ende einer Krankheit kommt ja immer die Zeit, in der es einem zwar nicht mehr richtig schlecht geht, aber eben auch noch nicht gut. Und was macht man da? Ja – fernsehen – genau. Beim Zappen bin ich bei einer Sendung hängen geblieben, einer Doku von Andreas Kieling. Ich weiß gar nicht mehr den Titel, aber er wanderte darin den ehemaligen Kolonnenweg zwischen der DDR und BRD ab. Diese herrlichen Bilder, die grüne Landschaft, das Naturerlebnis und das Abenteuer standen in krassem Kontrast zum meinem Herumdösen mit einer halb verheilten Grippe. Ich bekam solch eine große Sehnsucht nach dieser Freiheit, nach dem Gefühl von Sonne auf der Haut, nach Unabhängigkeit und Ungebundenheit. Die Natur hat eine solche Kraft ausgestrahlt und dieser Andreas Kieling so ausgeglichen gewirkt mit seinem Hund Cleo, dass ich entschied, das mache ich auch.
Zuerst wollte ich auch tatsächlich diesen Kolonnenweg laufen, aber mit dem Hochwasser an der Elbe, habe ich mir dann doch ein anderes Ziel ausgesucht. Egal wie, ich wollte eine Wanderung machen, raus in die Natur gehen für mehrere Tage oder sogar Wochen – das hatte ich noch nie gemacht. Frei sein, unabhängig sein – ja, das wollte ich! Ja, und ich wollte diesem ganzen Sch‘#ß, der hinter mir lag und allem anderen auch davon laufen. Abhauen! Weg!

Die Vorbereitung

Dazu musste ich mich allerdings erst einmal wieder auf die Beine bringen. Meine Kondition war im Keller, von meiner Kraft ganz zu schweigen – also machte ich wie im Jahr zuvor das Programm von Matt Roberts „Schnell in Bestform“. Ich fing wieder mit leichtem Training an, kurzen gemütlichen Läufen und mäßig vielen Einheiten pro Woche. Das war so etwa Anfang April. Diesmal machte ich das Programm aber nur 8 Wochen und dann nach meinem eigenen Plan weiter. Nebenher checkte ich verschieden Alternativen, wohin ich wandern könnte, und entschied mich nach einigem hin und her für eine Tour im Elsaß. Der GR 53 hatte es mir angetan. Das ist ein Weitwanderweg von Weißenburg bis Belfort und ich wollte ein Teilstück davon bewältigen. Eigentlich war mein Ziel bis Colmar zu laufen, doch es kam ganz anders…

Bei meiner Planung schaltete sich irgendwann mein mittlerer Sohn ein, ein überzeugter Outdoorer, hat mit 13 schon mit den Pfadfindern die Alpen überquert, und wollte mich begleiten. Das Ganze entwickelte sich allerdings nicht so harmonisch, wie es klingt – irgendwann fand ich mich in der Rolle wieder, dass ich ihn begleite. Er wollte daraus eine sportliche und outdoormäßig anspruchsvolle Herausforderung machen. So mit wild campen, selbst kochen, Zelt und Extraequipment mitschleifen und allem drum und dran. Mit dem Heranrücken des Datums sind wir uns jedoch dermaßen in die Wolle geraten – um es mit Jochen Malmsheimer auszudrücken, mit seinen damals 16 Jahren befand er sich eben „im Würgegriff seiner Körperchemie“, was soll er machen??? – dass ich beschloss, dann gehe ich eben allein!

Bedenken überwinden

Das war insofern eine mutige Entscheidung, als dass ich vor etwa 7 Jahren von einem Stalker überfallen wurde und diese Erfahrung natürlich trotz aller positiver Bewältigung Spuren hinterlassen hatte. Ich habe mich dadurch jedoch auch bislang nicht in meinem Bewegungsradius einschränken lassen, ich wollte diesem Mann nicht noch mehr Macht über meinem Leben geben. Aus Angst nicht allein joggen zu gehen oder sonst etwas allein nicht zu unternehmen, kam für mich nie in Frage. „Wo die Angst sitzt, da geht’s lang“ – das war immer meine Devise.
Trotzdem habe ich mir im Internet Blogs von anderen Frauen durchgelesen, die alleine mit dem Rucksack unterwegs waren. Das hat dann meine – ich gestehe doch leichte – Furcht vor meiner eigenen Courage gemildert. Im Nachhinein  kann ich darüber echt nur schmunzeln. Ich bin manchmal einen ganzen Tag lang außer morgens und abends im Hotel keinem einzigen Menschen begegnet. Welcher potenzielle Täter legt sich denn schon so lange auf die Lauer und hofft darauf, dass genau dann eine einzelne Frau vorbeikommt? – Eben.

Mein Mann hatte da erstaunlicherweise gar keine Bedenken, er verstand meine Entscheidung angesichts des zu diesem Zeitpunkt angespannten Verhältnisses zu meinem Sohn sehr gut. Vielleicht auch weil er wusste, dass ich mir doch immer irgendwie helfen kann, wenn’s drauf ankommt. Das hat bei mir dann die letzten Bedenken zerstreut.

Der Reisestart

Endlich ging es los! Ich habe meinen Rucksack gepackt, eigentlich gefühlt nur das Nötigste (Witz!), und – schwupps – 12 Kilo. Nun werdet Ihr sagen, im Studio stemme ich ganz andere Gewichte, was sind schon 12 Kilo. Ich mache doch ständig Kniebeugen und Ausfallschritte mit 10 Kilo in der Hand, das wird schon gehen. So dachte ich auch…    

Start der WanderungAlso los! Mein Mann fuhr mich an einem wunderschönen Sommermorgen nach Bad Bergzabern und dort begann die Reise.
Klar war das aufregend, bevor es richtig losging! Meinem Mann ist es sichtlich schwer gefallen, mich gehen zu lassen. Vermutlich weil ich in so einer „Abhau-Stimmung“ war, weil mich in dieser Zeit einfach alles angek##zt hat, dass er nicht wusste, ob ich wieder zu ihm zurückkomme. Vielleicht wusste ich das selbst auch nicht…

So viel zum emotionalen Teil beim Start.

Ich ging beherzt los, fand auch gleich die ersten Wegzeichen erst einmal in Richtung Frankreich bis Weißenburg und dann den GR 53 weiter. Schon bei der ersten lächerlichen Steigung wurde mir klar, das wird kein Zuckerschlecken, der Rucksack drückt doch ganz schön! Aber gesagt – getan, ich schaffe das! Der erste Tag war wirklich hart mit dem Gewicht auf dem Rücken. Als ich einmal kurz angehalten habe und ihn absetzte, konnte ich ohne Rucksack kaum noch gehen, mein ganzes Becken war irgendwie verschoben – total seltsam.

Aller Anfang ist schwer

Ich lief also an diesem ersten Tag über die Grenze und in eines der ersten Dörfchen in Frankreich. Die Hitze war unerbittlich, im Wald ging es zwar, doch nicht alle Wege waren im Schatten. Prompt verlief ich mich einmal, was bestimmt am Weg lag, der führte wunderbar schattig den Berg hinunter – da hat es mich einfach hingezogen…
Als ich dann unten war, habe ich es erst kapiert – klar: alles wieder zurück und nach oben. Ich war völlig platt, als ich endlich in der Pension ankam. Ich hatte übrigens nichts reserviert, ich wollte wirklich unabhängig und flexibel sein, hab‘ mich einfach auf mein Glück verlassen – zur Not findet man immer etwas. Für den Fall der Fälle hatte ich einen Schlafsack und eine Isomatte dabei, damit ich auch mal im Wald schlafen könnte, falls alle Stricke reißen würden.

Widerstände akzeptieren und bewältigen

Der nächste Tag ging schon viel besser. Klar, es war heiß, aber was soll’s. Ich liebe das, wenn man vor lauter Hitze irgendwie neben sich steht. Das hat was Verrücktes, Surreales. Die Leute im Ort, die mich gesehen haben, haben zwar mit dem Kopf geschüttelt, wie man bei diesem Wetter wandern kann, doch mir hat das richtig Spaß gemacht. Jede Steigung war eine sportliche Herausforderung. Ich habe mir zum Ziel gemacht, meine Schrittfrequenz so gut wie möglich konstant zu halten, auch wenn es bergauf ging. Nach 10 Minuten war ich immer total nass geschwitzt. Aber das war egal, das war Teil des Projekts. Wäre es 10 Grad kühler gewesen, hätte ich halt 10 Minuten länger gebraucht, bis ich klatschnass gewesen wäre.
Es kommt auf die Einstellung an, die man dazu hat. Ist man bereit, die Dinge einfach so zu nehmen, wie sie kommen oder fängt man wegen allem gleich an zu jammern? Es war eben heiß, endlich Sommer und ich war weg – ganz alleine. Das war herrlich! Ich war vergnügt wie ein kleines Kind und mir sind die alten Lieder wieder eingefallen, die wir ganz früher, als wir mit meinen Eltern wandern waren, immer gesungen hatten. Ich war richtig glücklich!

An die körperlichen Grenzen gehen

Ich muss aber auch sagen, dass auf dieser Tour plötzlich all das Training einen Sinn ergeben hat, das ich  lange Zeit absolviert habe. Schon allein die 100000 Ausfallschritte, Step-ups und Kniebeugen. Geh mal mit einem Rucksack einen Berg hoch. Die Wege sind ja schließlich nicht asphaltiert. Da gibt es Steigungen über grobes Geröll, da hast Du das Gefühl, Du machst eine Stunde lang Ausfallschritte. Die Kraft zum bergab laufen hatte ich nur durch die vielen, vielen Kniebeugen mit Hantelscheibe vorm Körper. Was denkst Du, wie Dir die Knie zittern, wenn Du erst mal seit 5-6 Stunden unterwegs bist, und man glaubt ja nicht, was man da für eine Rumpfstabilität braucht. Aufhören gibt’s da nicht im Wald. Du kannst ja nicht einfach stehen bleiben, Du musst am Ende runter ins Dorf.

Die Sache mit dem im Wald Übernachten hatte ich mir ehrlich gesagt anders vorgestellt. Ich dachte, im Elsaß gibt es viele kleine Seen und Weiher, dort könnte ich bleiben, war aber irgendwie doch nicht. Und ich muss gestehen, ich war schon sehr froh, wenn ich abends im Hotel war und den Luxus hatte, mich duschen zu können und in einem Bett zu schlafen. Ich gebe zu, das wäre für manche Hardliner womöglich zu sanft, aber mir hat’s gereicht – schon wegen der Hitze!

Solche Dinge wie Disziplin kommen besonders abends im Hotel zum Tragen, wenn man völlig erschöpft dort ankommt, eigentlich nur noch duschen, essen und ins Bett will, heißt es zuerst die verschwitzten Sachen waschen. Sonst hätte ich ja am nächsten Tag nichts Sauberes zum Anziehen gehabt. Und ich musste es gleich machen, damit sie auch wirklich bis zum nächsten Morgen trocken waren.
Gut, ich hätte die verschwitzten Sachen wieder anziehen können, aber das wollte ich halt nicht. Ergo – zuerst die Pflicht. Da merkt man erst einmal, wie sehr wir alle durch unser bequemes Luxusleben verwöhnt sind. Wenn wir vom Training nach Hause kommen, Sportzeug in die Waschmaschine, einschalten – fertig. Wir machen uns darüber gar keine Gedanken mehr, das ist für uns alle einfach normal. Sofortbefriedigung ist schlecht für Disziplin und eine gute Einstellung! Da erlebt man auf so einer Tour selbst im Elsaß schon einen gewissen touch-base.

Körperlich gesehen war diese Tour ein phänomenaler Spaß – sportlich herausfordernd, aber richtig klasse!

Wenn der Ehrgeiz zupackt

Frühstück im WaldEs gab nur zwei Ausnahmen: Am dritten  Tag, als es schon richtig gut lief, war ich morgens schon vor acht Uhr auf der Strecke. Ein Frühstück im Wald ist übrigens das Allerschönste, womit man seinen Tag beginnen kann – nur zu empfehlen!

Ich erreichte deshalb mein Etappenziel schon am frühen Nachmittag so gegen halb zwei. Irgendwie hat mir dieses Dörfchen jedoch so gar nicht gefallen. Es war noch sehr früh am Tag, klarer Fall: Ich habe die nächste Etappe gleich mit drangehängt.

Das waren um die 17 km. Nun kann man die Strecke in den Bergen nicht 1 zu 1 auf die Ebene übertragen und umgekehrt. Wenn ich im Training 1,5h laufen gehe, schaffe ich gut 13-15 km je nach dem. Mit Rucksack und bergauf und bergab dauert das Ganze deutlich länger, auch wenn man zügig marschiert.

Aber ich war guter Dinge und mein Ehrgeiz war geweckt: Zwei Etappen an einem Tag! Leider habe ich die Rechnung ohne meine Körper gemacht…
So nach der halben Distanz fand ich die Wegzeichen einfach nicht mehr. Die ganze Zeit waren die Wege wirklich super markiert. Außer einem kleinen Wanderführer hatte und brauchte ich keine Karte. Entweder ich fand die Wegzeichen oder ich habe in dem Führer nachgelesen, wie der Weg verläuft. – Bis zu diesem Punkt.
Ich bin bestimmt fünfmal ein Stück hin und her gelaufen, nochmal geschaut und gelesen – aber das nächste Wegzeichen konnte ich einfach nicht finden. Irgendwann bin ich dann so weit gelaufen, bis ich auf dem Feld einen Bauern getroffen habe. Den konnte ich fragen und er wusste auch tatsächlich, wie der Weg weiterging. Für meine Tagesplanung war das zeitlich allerdings fatal. Ich habe bestimmt eine Stunde verloren – und jede Menge Kraft…

Niemals aufgeben!

Einige Zeit später machte sich das dann mit aller Macht bemerkbar. Ich lief durch ein kleines Dorf und mein Rucksack wurde von Schritt zu Schritt immer schwerer. Normalerweise füllte ich morgens meine 1,5l Wasserflasche im Hotel mit Leitungswasser auf. Mit dem  was ich unterwegs an Trinkgelegenheiten fand, reichte mir das immer gerade so bis zum späten Nachmittag, wenn ich wieder in einem Hotel war. Doch durch meine Doppeletappe, musste ich mir an diesem Nachmittag nochmal eine Flasche Wasser kaufen – also nochmal die vollen 1,5 kg Gewicht. Ich weiß, für Bodybuilder klingen diese Zahlen echt lächerlich, aber ich hab’s wirklich gespürt. Nach einer Stunde habe ich mich dazu entschieden, einen Teil des Wassers auszuleeren, soviel konnte ich einfach nicht auf einmal trinken. Das ist paradox. Bei 35-40°C gibt’s ja unterwegs eigentlich nichts, das wichtiger sein kann als Wasser, aber ich spürte meine Schultern nicht mehr und habe es ausgekippt! Ich erinnere mich noch an das etwas beklemmende Gefühl, als ich das Wasser auf der Straße den Berg hinunter laufen sah – ?! Zum Glück hat der Rest bis ins Hotel gereicht.
Auf den letzten Kilometern haben dann aber meine Waden versagt. Sie wurden bretthart und ich konnte nur noch im Schneckentempo laufen, es war wirklich sehr mühsam. Ich wollte eigentlich gar nicht mehr, war körperlich total am Ende – seit Tag zwei hatte ich zudem 4 Blasen, die sich sehr schmerhaft bemerkbar machten. Da braucht man dann Biss. Schritt für Schritt – bis zum Ziel.

Mentales Training: Wie gehe ich mit mir um, wenn es schwer wird? Aufgeben ist keine Option!

Heimweh

Die zweite Ausnahme, die nicht (nur) Spaß war, war auch gleichzeitig die letzte. Am Tag zuvor war ich in Saverne gelandet, alles war prima. Ich war super gut drauf, hatte ein tolles Biolädchen gefunden und mir was Leckeres zu essen gekauft, das ich auf einer Parkbank genüsslich verspeist hatte. Ich hatte ein günstiges Zimmer – und urplötzlich kippte meine Stimmung. Ich hatte Schiss vor der nächsten Etappe. Die Tage zuvor waren die Anstiege deutlich geringer und das hatte mir schon alles abverlangt – wohlbemerkt bei 40°C! Die Belastung war recht hoch. Meine Füße waren auch schon ziemlich mitgenommen (…ich habe in der Zeit danach vier Zehennägel verloren und der Nagel von meinem linken großen Zeh ist bis heute noch nicht wieder ganz rausgewachsen…) – und ab Saverne sind die Berge bestimmt ein gutes Drittel höher als zuvor. Ich hatte richtig Respekt. Doch was noch hinzu kam, ich hatte einfach keine Lust mehr allein zu sein. Urplötzlich fühlte ich mich einsam. Die Strapazen waren so extrem bei der Hitze und sich selbst mental da allein durch zu tragen, ist unheimlich anstrengend. Ich vermisste meinen Mann. Ich wollte wieder heim zu ihm – ehrlich, das war’s.

Lektionen fürs Leben

Die ganze Zeit habe ich das Alleinsein extrem genossen. Ich war so sehr mit mir im Einklang, ich war glücklich und fröhlich wie zuletzt als Kind. Ich hatte Zeit über vieles nachzudenken, vieles zu Ende zu denken, wozu man im Alltag oft nicht kommt. Ich habe mich endgültig von meinem (vor zwei Jahren verstorbenen) Vater verabschiedet.
Ich habe erkannt, wie stark ich sein kann, wie leistungsfähig, wie zäh, aber auch in welchen Punkten ich mich für gewöhnlich auf andere – meistens meinen Mann – verlasse, wo ich zu früh aufgebe und den Weg nicht zu 100% zu Ende gehe. Ich habe erkannt, dass ich sogar mit der Hälfte an Zeugs in meinem Rucksack wunderbar und ohne Probleme ausgekommen wäre. Hey, ich bin eine Fashiontussi und das macht mir Spaß! Aber ich habe festgestellt, dass es auch mit einer einfachen Short und einem Funktions-T-shirt geht. Das hat etwas verändert in meinem Leben – das dürft Ihr mir glauben!

Ich habe erlebt, wie glücklich es macht, in der Natur unterwegs zu sein und wie herzlich Menschen sich begegnen, die mit dem gleichen Ziel unterwegs sind. Dass Unterschiede zu anderen Wanderern kleiner werden und sie und ich netter, offener und hilfsbereiter zueinander sind. Das hat mein Vertrauen zu anderen Menschen, das seit meinem Überfall ziemlich gelitten hatte, wieder aufgebaut. Die Erkenntnis, dass es mir gut tut mit anderen Menschen in Kontakt zu treten, war sehr versöhnlich für mich. Ich wurde nämlich nach dem Überfall in unserem Ort förmlich „zerrissen“. Das hat mir einiges an Lebensfreude geraubt. Mir selbst wurde die Schuld gegeben an dem, was passiert war. Ich hätte es herausgefordert, hieß es. Auch wenn ich weiß, dass solche Äußerungen aus Dummheit und Neid gemacht werden – weh tun sie trotzdem…

Die Reise zum Ich

Ich habe gespürt, was mir am allerwichtigsten ist und was mir fehlt und lange Zeit gefehlt hat, nämlich Ehrlichkeit – in allem! Keine Show! Ich habe gelernt, wo ich mich immer wieder ausnutzen und mir von anderen meine Kraft rauben lasse. Welche „Freunde“ mich nur benutzen, um mich als Publikum zu haben, das Beifall für sie klatscht. Leute, die einem immer das Gefühl geben, man selbst sei schlechter, weniger wert als sie selbst. An einem Grillabend, bevor ich losging, hatten mir doch tatsächlich unsere „Freunde“ klar machen wollen, ich solle doch mal was „Richtiges“ machen. Golf spielen und so, Urlaub in Südafrika und nicht so komische Sachen, wie ich sie immer mache – so viel Sport, so viel Anstrengung – Geht’s noch? Ich definiere mich genau darüber! Und ich bin komplett authentisch dabei! Das macht mir Spaß, das bin ich! Ich suche die Herausforderung – immer.
Ich bin anders als andere Frauen in meinem Alter um mich herum, warum werde ich trotzdem immer mit diesen verglichen – und schneide schlechter ab?!? Mit „Freunden“, die mich nicht so respektieren, wie ich bin, was ich bin und tue, gebe ich mich seither nicht mehr ab.

Oh ja, ich habe jede Menge Konsequenzen daraus gezogen – unverbittert wohl bemerkt!

Ich hatte spirituelle Erlebnisse wie die Tatsache, dass ich so intensiv an meinem Opa (der vor einigen Jahren gestorben ist) denken musste, dass ich beinahe geglaubt habe, er liefe neben mir. Er war immer so gerne im Wald unterwegs und hat fröhlich gepfiffen – so ging es mir auch die ganze Zeit. Im zweiten Weltkrieg ist er als Soldat desertiert und von Russland nach Hause gelaufen – ich konnte mir nur im Ansatz vorstellen, was das für ihn geheißen haben musste. Da war nichts mit fröhlichem Pfeifen…! Er ist immer nachts gelaufen und hat sich an den Sternen orientiert und tagsüber hat er in irgendwelchen Scheunen u.ä. geschlafen. Blanker Wahnsinn!

Ich habe erlebt, wie ich eine ausgeprägte Intuition entwickelt habe. Mein Gefühl hat mich – bis auf die eine Ausnahme von oben – stets richtig geleitet. Ich konnte sogar eine allgemein gültige Regel daraus ableiten: Immer dem ersten Impuls zu folgen. Das war immer der richtige Weg – und wenn ich dies nicht befolgt habe, habe ich mich auch prompt verlaufen und musste umkehren. Das beherzige ich inzwischen auch in meinem Alltag: Immer dem ersten Impuls vertrauen!

Kürzlich habe ich einer alten Freundin davon erzählt und auch von der Tatsache, dass ich seit langem mit mir hadere, ob ich nicht an der einen oder anderen Stelle in meinem Leben zu früh abgebogen bin, ob ich vielleicht aufgegeben hätte und nicht eingelenkt. Sie hat meinen Blickwinkel daraufhin völlig verändert, indem sie sagte, dass ich wahrscheinlich damals schon diese Intuition hatte – von wegen zu früh abgebogen. Hey, das hat mich so dermaßen mit meiner Historie versöhnt – sehr heilsam!

Der Heimweg

Heimweg der WanderungIn Saverne kam ich also zu dem Punkt, dass es mir reicht. Ich wollte wieder nach Hause. Der Plan war, dass ich dorthin zurücklaufe. Ich musste nur einen Weg an den Rhein finden und mich von dort aus nordwärts begeben, dann würde ich in drei Tagen dort sein. Aber diese heißen Tage und die damit zusammenhängenden Strapazen hatten mich zu sehr ausgelaugt, ich schaffte es noch bis nach Haguenau, aber dann ging das mit meinen Waden echt gar nicht mehr. Für die letzten 5 km brauchte ich 2,5 Stunden.

Außerdem hatte das Wetter umgeschlagen und es regnete, das hat meine Moral weiterzulaufen vollends zerschlagen. Ich musste mich geschlagen geben – und war trotzdem überglücklich.
Ich war „davon gelaufen“, habe unheimlich viel über mich selbst erfahren, bis hin zu der Erkenntnis, dass ich wieder nach Hause wollte, weil ich eben meine Familie und meinen Mann vermisse und brauche. Ich wollte nicht weg von ihnen, hab‘ nur mal eine Auszeit gebraucht, um mich nach all dem Sch‘#ß neu zu sortieren. Und damit war ich soweit fertig.
Ich habe es gerade noch bis zum Bahnhof von Haguenau geschafft. Dort habe ich dann die letzte Seite in meinem Reisetagebuch beschrieben, das ergab damit unheimlich viel Sinn. Ja, die Tour war fertig. Ich war irgendwie am Ziel, einem anderen als ich ursprünglich geplant hatte, einem Ziel, das auch mich selbst überrascht hat, aber ich war angekommen. Als mich mein Mann und meine Tochter dann in Haguenau abgeholt hatten, musste ich weinen – vor Erleichterung, wegen der Strapazen, der Sehnsucht nach ihnen und dass das alles jetzt vorbei war. Ist doch verrückt, oder nicht?

Was für ein Erlebnis!

Ich zehre noch heute davon und es hat mein Leben nachhaltig verändert. Ich habe das Gefühl meinem ursprünglichen Ich, meinem Ich aus meiner Jugend, als mir noch nicht so viel Schwierigkeiten begegnet waren und ich noch nicht so viele Träume beerdigen musste, als ich noch voller Mut und Zuversicht war und das Gefühl hatte, mir stünde die Welt offen, einen großen Schritt näher gekommen zu sein.
In Zukunft werde ich es besser beschützen, ja sogar eher noch weiter „freilegen“. Ich habe konkrete Pläne und Ziele für die Zukunft formuliert – schriftlich, zum ersten Mal! Daran halte ich fest, weil ich jetzt einfach besser weiß, was ich brauche, um mich gut zu fühlen. Weil ich weiß, was ich kann und was nicht. Und weil das, was ich kann, etwas Großartiges ist. Das gibt mir so viel Kraft und Mut, diese Ziele anzustreben und hoffentlich auch bald zu erreichen. Ich habe das Gefühl, ein ganz anderer Mensch zu sein. Oder besser überhaupt erst zu merken, was ich für ein Mensch bin.

Ich kann nur jedem, der sich selbst besser kennenlernen will dazu raten, geht mal auf Tour, und zwar am besten allein! Dann habt Ihr nämlich niemanden, dem Ihr die Schuld in die Schuhe schieben könnt, wenn’s mal nicht so läuft wie geplant. Es müssen nicht unbedingt die Alpen sein, so ein Mittelgebirge reicht völlig. Wem das zu wenige Herausforderungen sind, der macht eben längere Etappen.

Und an Euch Frauen: Traut Euch mal was! Traut Euch mal was zu! Lasst Euch nicht von ängstlichen – oftmals feigen – Leuten um Euch herum davon abhalten, etwas zu wagen. Was denkt Ihr, was meine Familie zu meinem Vorhaben gesagt hat?! Mein Mann und meine Kinder fanden das zwar toll; meine beiden Söhne (17 und 20) haben kurz darauf eine Alpenüberquerung gemacht – also alles ganz normal. Und meiner Tochter will ich vorleben, dass Frauen nicht nur „Frauenkram“ und Wellness machen. Sie soll ihr Leben viel kraftvoller angehen als ich, viel mutiger!
Nur meine Verwandtschaft hat größtenteils den Kopf über mich geschüttelt – „Jetzt spinnt sie ganz…“ – Na und?

Ich habe, was mein Leben und meine Entwicklung angeht, einen Quantensprung gemacht, das wäre anders in der Zeit gar nicht machbar gewesen! Deshalb noch mal mein Rat: Geht raus! Macht mal etwas komplett anderes als bisher! Traut Euch mal was! Konfrontiert Euch mit Euch selbst und lernt Euch mal richtig kennen! Das ist ein echtes Abenteuer, das Ihr niemals vergessen werdet – ich verspreche es Euch! – und wartet nicht zu lange, Ihr habt nichts zu verlieren. Los!

Herzlichen Dank an Indra Leibig für diesen tollen, inspirierenden Gastbeitrag! Wer mehr interessante Artikel von Indra lesen möchte, sei herzlich eingeladen ihren Blog „Leben – Für Anfänger und Fortgeschrittene“ zu besuchen.

(Bild 1: segovax  / pixelio.de)