Seneca war ein knüppelharter Stoiker. Das gefällt mir. Stoiker zu sein bedeutet, über den menschlichen Irrungen und Wirrungen zu stehen, Weisheit anzustreben und selbst im Angesicht des eigenen Todes locker zu bleiben. Einer seiner zugänglichsten Texte heißt „de tranquilitate animi“ oder für Nichtlateiner…

Von der Gemütsruhe

So wird es zumindest von jenen übersetzt, die antike Philosophie so frisch und lebendig anpacken wie ein zahnloser Greis seinen Zwieback. Lassen wir Seneca selbst zu Wort kommen, worum es hier geht:

Das, wonach Du sehnlichstes Verlangen trägst, ist aber etwas Großes, Erhabenes, nahezu Göttliches, nämlich Unerschütterlichkeit. (Dieses und alle weiteren Zitate stammen aus Senecas Feder – insofern sie nicht anders gekennzeichnet sind.)

Na das klingt doch gleich viel besser. Seneca wendet sich anSerenus. Einen fingierten Brieffreund, der seinem Mentor berichtet, dass er zwar auf dem richtigen Weg zu Freiheit, Stärke und Erhabenheit sei, aber immer wieder vom Weg abkomme und an dessen Richtigkeit zweifle. Weil ja die anderen es ganz anders machten, viel anspruchs- und maßloser und doch glücklicher scheinen, weil es so schwer sei, tugendhaft und aufrichtig zu sein usw. Eine Symphonie von Mimimi.

Seneca muntert ihn auf und bekräftigt ihn, sich zu vertrauen und an sich zu glauben. Er müsse lernen, in sich selbst zu ruhen und nicht flatterhaft wie ein junger Vogel zu sein – „sich weder erhebend noch sich herabwürdigend“.

Zuallererst

…kritisiert er all jene, die nicht leben, „wie sie wollen, sondern wie sie einmal angefangen haben.“ Wozu das führt?

„Da werden sie denn von Reue gepackt über ihr Beginnen und von Angst vor einem neuen Anfang, und es stellt sich jener schwankende Gemütszustand ein, der keinen Ausweg findet, weil sie ihre Begierden weder zu beherrschen noch ihnen nachzugeben vermögen; daher denn auch die Hemmung des einer festen Entscheidung unfähigen Lebens und das Einrosten der inmitten vereitelter Wünsche erstarrenden Geisteskraft.“

In solch einer Haut gefangen gibt es für viele nur eine Lösung…

Flucht

Ein anderes Wort für Ablenkung. Wie viele sind nicht davon betroffen? Wer kann schon mit sich im Reinen sein, allein sein? Man fühlt sich an Lukrez erinnert:

„So sucht jeder die Flucht vor sich selbst.“

Seneca dazu: „Aber was hilft es, wenn man sich nicht selber entfliehen kann? Man folgt sich selbst und ist sein eigener lästigster Begleiter. Es ist also – darüber müssen wir uns klar sein – nicht des Ortes Schuld, sondern unsere eigene, unter der wir leiden.“

Oder anders formuliert: Wer in sich keine Ruhe findet, wird sie nirgendwo finden. Wer hingegen stark und ruhig wie ein Fels in der Brandung steht, wird überall beherrscht bleiben. Was lernen wir? Das Wo ist sekundär und vermag uns weder zu helfen noch zu schocken – solange wir uns selbst fest im Griff haben.

Keineswegs

…solle man sich durch diesen Gedanken der Einsiedelei anheim geben. Das führe nur zu Überdruss. Vielmehr solle man sich des tätigen Lebens bemächtigen und ein aktiver Bürger werden. Nicht nur im eigenen Dunstkreis, der eigenen Stadt oder dem eigenen Land. Die Welt ist groß und Seneca schaffte bereits vor fast 2000 Jahren, was heute immer noch kaum jemandem gelingt: Globales Denken!

„Darum haben wir mit edler Beherztheit uns nicht in die Mauern einer einzelnen Stadt eingeschlossen, sondern die ganze Welt zu unserem Verkehrsfeld gemacht und uns zum Weltbürgertum bekannt, um so der Tüchtigkeit einen weiteren Spielraum zu schaffen.“

Wer im antiken Rom kein Weltbürger – kein Kosmopolit – war, war bereits damals von gestern. Wer es heute noch nicht ist, ist schlichtweg ein beschränkter Idiot.

Aber Rhabarber

…es ist ja nicht gerade leicht, an den bestehenden Umständen etwas zu verändern. Alles ist ja so festgefahren und beschränkt und die Welt ist so groß und überhaupt mimimi.

Die meisten unter uns verfallen so in eine Art Schockstarre und tun gar nichts mehr von Bedeutung – leben nur noch für sich selbst, den eigenen kleinen beschränkten Alltagstrott, bei dem sich heute, morgen und gestern gleichen wie ein dioxinverseuchtes Ei dem anderen. Ein großer Mensch würde sich nie derart kläglich selbst beschränken. Eher gleicht er einem Boxer.

„Je nach der Lage des Staates, also je nach der Gunst oder Ungunst des Schicksals werden wir entweder uns recken oder uns ducken, auf alle Fälle aber uns immer in Bewegung halten und nicht unter dem lähmenden Einfluss der Furcht in Starrheit verfallen. Nein, der nur ist mir ein Mann, der rings von Waffen umstarrt und von klirrenden Ketten, seiner Mannhaftigkeit keinen Abbruch tun lässt und sich den Blicken entzieht; denn sich retten heißt nicht sich begraben.“

Aber ist das nicht feige? Nun denn, die Beantwortung dieser Frage ist nicht immer leicht. Der Macho in uns hält sich an Brecht: „Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft, hat bereits verloren“, aber in manchen Situationen ist diese Einstellung nicht intelligenter als das Verhalten eines Boxers, der mit seiner Nase frohgemut in die rechte Gerade seines Gegners springt. Brechts Gedanke ist ein schöner Schlachtruf, doch für das Leben gilt eher Folgendes:

Man gebe mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann; den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann; und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.“

Grabenkämpfe ohne Aussicht auf Erfolg sind nichts weiter als Selbstzerstörung und weise sind sie schon gar nicht. Dies gilt auch für Beziehungen aller Art. Man dürfe nicht „warten, bis die Umstände die Trennung erzwingen, [man müsse] sich selbst von ihnen trennen.“ Viele Menschen sind gefangen in Arbeitsverhältnissen und Partnerschaften, die ihnen das Leben aussaugen. Das gilt es zu vermeiden, denn „es gibt kein schlimmeres Unheil, als aus der Zahl der Lebenden auszutreten, ehe man stirbt.“

Und wie lebt man dann richtig?

„Das erste, was wir tun müssen, ist, uns selbst genau zu prüfen, sodann die Geschäfte, denen wir uns widmen wollen, und drittens die Leute, für die oder mit denen wir uns zu schaffen machen.“

An dieser Stelle wird es Zeit, das Credo aller Stoiker einzuführen: secundum naturam vivere! Was so viel bedeutet wie: Lebe der Natur entsprechend!

„Es ist zu erwägen, ob Deine Natur geeigneter ist für das Geschäftsleben oder für ruhige Studien und für die Beschaulichkeit, und Du musst Dich dem zuwenden, wohin die Eigenart Deiner Begabung Dich zieht, denn der Geistzwang wirkt meist lähmend, alle Mühe ist umsonst, wenn die Natur widerstrebt.“

Viele Menschen versuchen sich in Rollen zu zwängen, die ihnen überhaupt nicht angemessen sind – wie ein Hardgainer, der gern massiger Bodybuilder wär. Das ist auf lange Sicht und mit rechten Mitteln ein zäher Kampf, macht unglücklich und doch ist die Gesellschaft voll von solchen Beispielen. Bist Du, verehrter Leser, nicht vielleicht auch einer von ihnen? Lebst Du Deiner Natur gemäß? Was liegt überhaupt in Deiner Natur? Was sind Deine wahren Wünsche, was Deine Veranlagung? Finde es heraus, streiche alle Irrwege und dann folge dem Weg, der Dir auf den Leib geschneidert ist – secundum naturam vivere!

Dies gilt insbesondere für die Wahl Deines Berufes. Erfüllt er Dich voll und ganz oder bist Du mit ihm eher unter- oder gar überfordert? Der wahre Athlet steht darauf, wenn er gefordert wird, wenn er mit Widerständen konfrontiert wird, die er gerade so bewältigen kann. Aber er sollte so weise sein, sich nicht zu über-fordern.„Denn immer muss der Handelnde mehr Kraft haben, als das Behandelte ihm abverlangt: die Last, die größer ist als die Kraft des Tragenden, muss uns notwendig zu Boden drücken.“

Sieht man sich um bei den „Erfolgreichen“ unserer Gesellschaft, so gehen viele bereits in jungen Jahren auf dem Zahnfleisch. Die 80-Stunden-Woche bei einer Unternehmensberatung, einem etablierten Autokonzern oder einer großen Anwalts-Kanzlei fordern nicht nur unbezahlbare Lebenszeit, sondern auch gesundheitlichen Tribut. Ist es das Wert? Das muss jeder selbst entscheiden. Viele lernen erst auf die harte Tour, dass Geld kein guter Ersatz für die besten Jahre des Lebens ist.

Ebenso wichtig ist die Wahl der Menschen, mit denen man sich umgibt. Oft sind wir hier schludrig und schauen mal, was passiert. Wir wählen nicht wirklich. Eher lassen wir den Zufall entscheiden. Nehmen die erstbesten, die uns über den Weg laufen, ohne gleich vor uns weg zu laufen. Natürlich ist es nicht leicht, wahre Freunde zu finden, aber es lohnt sich, nach ihnen Ausschau zu halten und für sie zu kämpfen.

„Nichts macht uns mehr Freude als treue und herzliche Freundschaft. Was für ein Segen ist es, treue Seelen um Dich zu haben, denen Du jedes Geheimnis sicher anvertrauen kannst, deren Mitwissen Du weniger zu fürchten brauchst als Dein eigenes, deren Äußerungen Deinen Kummer lindern, deren Urteil Deine Pläne fördern, deren Heiterkeit Deinen Trübsinn verscheuchen kann, deren Gegenwart schon ein Genuss für Dich ist. Die Wahl allerdings darf nur auf solche fallen, die frei sind von schlimmen Leidenschaften; denn die Laster sind lauernde Feinde und übertragen sich auf die Nächststehenden und haben eine unheilvoll ansteckende Wirkung. Wie man also in Zeiten der Pest Sorge tragen muss, nicht mit schon erkrankten und schwer ringenden Personen in Berührung zu kommen, um nicht die Gefahr auf uns zu übertragen, die uns schon durch den bloßen Anhauch bedroht, so müssen wir uns bei der Wahl unserer Freunde strengste Charakterprüfung zur Regel machen, um nur solche zu wählen, die noch möglichst unverdorben sind. Es ist der Anfang der Krankheit, wenn man Gesundes mit Krankem mischt.“

Hast Du, lieber Leser, solche Freunde? Wirklich gute Freunde, denen Du mehr vertrauen kannst als Dir selbst? Nein? Vielleicht müssen wir lernen, die Ursachen dafür auch bei uns selbst zu sehen. Wären wir denn solch gute Freunde? Sind wir frei von schlimmen Leidenschaften, die nur Leiden schaffen, und Lastern, die uns und unsere Mitmenschen belasten? Wirkliche Vorbilder, die Geborgenheit, Freude, Ehrlichkeit und Motivation spenden?

Falls nein, wie sollten wir da Menschen anziehen, an die wir Ansprüche stellen, die wir selbst nicht erfüllen?Wer also einen guten Freund oder Partner sucht, sollte zuerst mal selbst einer werden und zugleich beginnen all jenen den Rücken zu kehren, die ihn dabei ausbremsen.

„Vor allem aber meide man die Schwarzseher und Klagesüchtigen, denen nichts gut genug ist, um nicht darüber ein Klagelied anzustimmen. Mag einer auch ein treuer und wohlwollender Geselle sein, er ist doch ein Feind unserer Ruhe durch seine ewige Aufregung und sein beständiges Seufzen.“

Jeder kennt diese Menschen. Man mag ihnen helfen, doch viele wollen sich gar nicht helfen lassen. Sie sind unglücklich und doch bleiben sie so, sind verhärtet und saugen jeglichen Frohgemut aus einem heraus. Wie ich diese Menschen satt habe. Auf gleicher Höhe mit den Spießern dieser Welt. Diese Aliens der biedernen Trockenheit und Wehklagerei. Sie sind wie dunkle Wolken, wenn sie sich verziehen, kanns noch ein schöner Tag werden. Hinfort mit ihnen. Lass die Sonne wieder scheinen.

Antiker Minimalismus

Alles was man besitzt, davon wird man auch besessen. Wer besessen wird, wird belastet und wer belastet wird, wird passiv und angreifbar. Je mehr man sich des eigenen Besitzes entledigt, desto freier, agiler und sicherer wird man. Denn was man nicht hat, kann einem nicht mehr schmerzlich entrissen werden.

„Man mache sich bewusst, dass Besitzlosigkeit ein viel leichterer Schmerz ist als Besitzverlust, und man wird einsehen, dass die Armut ein um so geringerer Anlass zu qualvoller Pein ist, je weniger bei ihr ein Verlust überhaupt in Frage kommt.“

Umso übertriebener wir materiellen Besitz ansammeln, desto höher ist automatisch das Risiko, ihn zu verlieren – insbesondere, wenn es mal hart auf hart kommt. Materiell fit zu sein, bedeutet etwas anderes, deswegen„sollten wir unseren Besitz wenigstens einschränken, um weniger den Schlägen des Schicksals ausgesetzt zu sein. Brauchbarer für den Kriegsdienst sind solche Körper, deren Glieder sich leicht der für sie bestimmten Waffenrüstung einfügen, als solche, die ein Übermaß haben und deren Größe sie allenthalben den Wunden preisgibt.“

In unserer Gesellschaft mögen körperliche Schlankheit und Fitness erstrebenswerte Ideale sein, doch materiell verfetten wir zusehends. In den letzten 60 Jahren hat sich der durchschnittliche Reichtum fast verdoppelt. Kurze Frage: Sind wir dadurch glücklicher geworden? Studien sagen: Nein. Es mag für die meisten unter uns unvorstellbar erscheinen, doch in puncto Besitz gilt tatsächlich: Weniger ist mehr!

„Gewöhnen wir uns, uns jeden Prunkes zu entschlagen und als maßgebend den Nutzen der Dinge anzusehen, nicht den äußeren Schmuck. Die Speise stille den Hunger, der Trank den Durst, der Geschlechtstrieb halte sich innerhalb der ziemenden Grenzen. Lernen wir, mit unseren eigenen Gliedmaßen auszukommen und in Kleidung und Lebensweise uns nicht nach der neuesten Mode zu richten (…) und es dahin zu bringen, dass wir den Reichtum mehr von uns selbst als vom äußeren Glücke erwarten.“

Gleiches gilt für wissenschaftliche Studien und Lektüre, „so hat der Aufwand dafür, an sich gewiss lobwürdig, doch nur so lange Sinn und Verstand, als er Maß hält. Wozu die unzähligen Bücher und Bibliotheken, von denen der Besitzer in seinem ganzen Leben kaum die Kataloge durchgelesen hat? Es belastet die Masse den Lernenden, ohne ihn zu belehren, und es ist vernünftiger, Dich an wenige Schriftsteller zu halten, als irrend umherzuschweifen von einem zum anderen.“

Was nützen abstrakte Gedankenspielereien, wenn sie keinen Bezug zur Realität haben? Wenn sie evtl. niemals Bezug haben werden? Wenn sie pragmatisch völlig wertlos und reiner Selbstzweck sind? Die Stoiker trieben interessiert Wissenschaft und verfolgten auch Literatur von Weltrang, aber sie legten Wert darauf, sich auf das zu konzentrieren, was für ihr Leben von Bedeutung war, was pragmatischen Sinn hatte, vernünftig war und ästhetischen Prinzipien folgte.

Die Macht der Gewohnheit

Wer von Schicksalsschlägen gebeutelt wird, erscheint oft hilflos – insbesondere wenn es keine Möglichkeit des Erwehrens gibt und die Situation sich keinen Deut verbessert, wenn das Leben einem eine Schlinge umwirft, die einen kaum noch atmen lässt. Wer dies für das Ende hält, sollte zuvor Seneca hören:

„So denke an die Gefesselten: anfangs wird es ihnen schwer, sich mir ihrer Last und den hemmenden Fußketten zurecht zu finden; haben sie aber einmal den Vorsatz gefasst, statt darüber in Wut zu geraten, sich in ihr Schicksal zu fügen, so lehrt sie die Not, das Unvermeidliche tapfer, die Gewohnheit, es leicht zu tragen. In keiner Lebenslage wird es Dir an Aufmunterungen, Erholungen und Aufheiterungen fehlen, wenn Du es über Dich gewinnst, das Schlimme lieber für erträglich zu halten, als es Dir verhasst zu machen. Die Natur, die wohl wusste, welchen harten Prüfungen sie uns durch unsere Geburt aussetzte, hat sich kein größeres Verdienst um uns erworben, als dies, dass sie zur Linderung unseres Ungemachs die Gewohnheit erfand, die uns bald auch mit dem Schwersten vertraut macht. Niemand würde es aushalten, wenn das Unglück bei weiterer Fortdauer immer dieselbe Kraft hätte wie beim ersten Schlag. Wir alle sind an das Schicksal gekettet, die einen mit goldener und gefügiger Kette, die anderen mit eng anschließender und rostiger; doch kommt es darauf an?“

Nicht wirklich. Es kommt darauf an, wie wir mit dem umgehen, was wir sind und vor allem, was wir daraus machen und wie wir uns damit arrangieren. „Begegnen wir den Schwierigkeiten mit kühlem Verstande: auch das Harte kann erweicht und das Enge erweitert und die Last minder drückend gemacht werden, wenn man sich nur auf die Kunst des Tragens versteht.“

„Schwierigkeiten“ sind relativ und wiegen vor allem deswegen schwer, weil wir es nicht verstehen, sie leicht zu nehmen. Dabei liegt es im Wesen der Stoa, zu lernen, über all diesen weltlichen Dingen zu stehen. Erhaben zu sein, „in dem Bewusstsein, dass alles gleich nichtig ist, äußerlich zwar mancherlei Gestalt annehmend, innerlich aber durchweg hohl.“

Diese Erkenntnis lehrt uns, lockerer zu werden gegenüber den vielen Nichtigkeiten, denen wir in unserer Gesellschaft unreflektiert hinterherhetzen – seien es Karriere, Besitztum o.ä. Es geht darum, sich auf das Wesentliche zu besinnen und in den Nebensächlichkeiten (den Adiaphora), so gut es geht, Maß zu halten, auch wenn die Verlockung groß ist. „So wird denn die eine oder andere Begierde die Seele anstacheln; aber eine Beschränkung auf ein gewisses Maß wird sie vor Übergriffen ins Grenzenlos und Unsichere bewahren.“

Der Quell der Freiheit

Für viele erstaunlich, aber zu diesen Nebensächlichkeiten gehört auch der eigene Tod. Denn wie sagte bereits Epikur (der Begründer des Hedonismus) über ihn: „Solange er nicht da ist, sind wir da und sobald er da ist, sind wir nicht mehr da – was interessiert er uns also, der Tod?“ Seneca als sein Zeitgenosse ist mit ihm (an dieser Stelle) gleicher Meinung:

„Der führt kein wünschenswertes Leben, der nicht gut zu sterben weiß. Daher muss man vor allem dem Tode keine so hohe Bedeutung beimessen, sondern den Odem zu einer verächtlichen Nebensache machen.“

Warum das? Ganz einfach – zumindest auf dem Papier: Wer Angst vor dem Tod hat, wird kein freies Leben führen. Seneca verfolgt jedoch genau dieses Ziel. Sein Motto: Lieber stehend sterben als kniend leben. Wer sich zudem als „Verächter des Lebens“ erweist, wird leicht und aufrichtig sterben. Aber er wird sich lange am Leben halten und dabei immer stärker werden, da er sich auf Grund seiner Einstellung vielen Herausforderungen stellen und daran wachsen wird. Anders sieht es bei den ängstlichen Menschen aus, die jede Herausforderung scheuen und so nicht wachsen, sondern verkümmern und immer labiler werden. Sie werden eines frühen kümmerlichen Todes sterben.

„Gar oft ist Angst vor dem Tode die Ursache des Todes. Das Schicksal, dem dies ein ergötzliches Schauspiel ist, sagt: ‚Wozu soll ich Dich aufsparen, Du heilloses und feiges Geschöpf? Nur um so kräftiger wird man mit Hieb und Stich gegen Dich losgehen, weil Du den Mut nicht hast, Deine Kehle darzubieten. Anders Du da! Du wirst länger leben und leichter sterben, der Du das Schwert nicht mit widerstrebendem Nacken und vorgestreckten Händen auf Dich niederfahren siehst, sondern mutig stirbst.’“

Theoretisch verpönt, doch weder die Natur noch die Gesellschaft handelte je anders. Das lernen wir bereits im Kindergarten: Es geht immer auf die Schwachen. Sie sterben zuerst. Das ist Evolution. Wäre es nicht so, so könnte sich das starke ästhetische Prinzip in unserer Welt nicht immer weiter herauskristallisieren und das Schwache und Hässliche überwinden. Und sind wir mal ehrlich: Wir lieben das Starke und Schöne – aber wir lieben es nicht, das in aller Härte auszudrücken. Das tut man einfach nicht. Aber gäbe es dieses Prinzip der Auslese nicht, so gäbe es weder höheres Leben noch Entwicklung. Dann wären wir immer noch glibschige unförmige Zellen in der Ursuppe. Dann wären wir alle fast-food-absorbierende RTL II-Konsumenten ohne Großhirn. Um dies zu verhindern muss Seneca gelernt und verstanden werden – auch in seinen Gedanken, die sich hier denen Nietzsches annähern.

„Wer den Tod fürchtet, wird nie einer des lebenden Menschen würdigen Tat fähig sein. Aber wer sich dessen bewusst ist, dass gleich bei seiner Empfängnis auch die endgültige Bestimmung über ihn getroffen sei, der wird der Vorschrift gemäß leben und mit derselben Geisteskraft zugleich auch das erreichen, dass ihn nichts von allem, was da kommen mag, unvorbereitet trifft; denn immer sieht er, was möglicherweise eintreten kann, gewissermaßen als wirklich eintretend, voraus und lindert dadurch das Ungestüm alles hereinbrechenden Unheils, das den in vollem Maße darauf Vorbereiteten keine Überraschung bringt, während es den sich gesicherten Wähnenden und nur an Glück Denkenden als schwere Prüfung erscheint. Lass es Krankheit sein oder Gefangenschaft, Einsturz, Brand: nichts von dem allen kommt völlig überraschend.“

Wer kennt nicht jemanden, der überfallen wurde, der fast alles verloren hat, dessen Familie zerrissen, die Kinder aus dem Leben gerissen wurden, der vom Krebs überrascht oder einem herannahenden Auto erfasst wurde und nun – manchmal von heute auf morgen – krank, allein oder besitzlos da steht? Verehrter Leser bedenke, morgen könntest auch Du an der Reihe sei. Auch für Dich gilt, was der antike Komiker Publilius gewohnt salopp und doch eindringlich formulierte:

„Was einen trifft, des mag sich jedermann versehn.“

Die meisten Menschen lassen sich deswegen so hart vom Schicksal schocken, weil sie zu naiv leben. „Es gibt nicht wenige Menschen, die, wenn sie eine Seefahrt antreten, an den Sturm nicht denken. (…) Wenn einer sich von dieser Wahrheit ganz durchdringen lässt und alles Leid, das ungezählt sich täglich über andere häuft, so ansieht, als hätte es freie Bahn auch zu ihm selbst, dann wird er sich längst mit Schutzwaffen versehen haben, ehe der Angriff erfolgt. Es ist zu spät, wenn man die Seele erst nach der Gefahr zum Bestehen derselben anhält. ‚Das hätte ich nicht für möglich gehalten‘ und ‚Hättest Du denn jemals an ein solches Vorkommnis geglaubt?‘ Ja, warum denn nicht? Wo ist der Reichtum, dem nicht Armut, Hunger und der Bettelstab unversehens folgen könnte? Welche Stellung, auch noch so würdevoll, schützt davor, dass dem Prachtgewand, dem Augurenschmuck und dem Patrizierschuh sich auch erniedrigende Schmach beigeselle und Ausstoßung aus dem Senat und tausenderlei Beschimpfungen und völlige Missachtung? Wo ist das Königstum, das sicher wäre vor Einsturz, vor Zerschmetterung, vor Gebieter und Henker? Und da wird nicht lang gefackelt; eine einzige Stunde liegt zwischen dem Königsthron und der Kniebeugung vor fremdem Herrscher. Lass Dir also gesagt sein, dass jede Lage dem Wechsel preisgegeben ist, und dass, was irgend einen trifft, auch Dich treffen kann.“

Wer stark sein will, muss vorausschauend leben, wissen was da kommen mag, und dafür bereit sein. Denn eines steht fest: Der Wandel ist das bestimmende Moment in der Welt. „Bei so unaufhörlichem Auf- und Abschwanken aller menschlichen Dinge musst Du alles, was möglicherweise eintreten kann, als Dir wirklich bevorstehend ansehen; sonst räumst Du dem Unglück eine Macht über Dich ein, die derjenige bricht, der beizeiten sich vorsieht.“

Die Besinnung auf das Wesentliche

„Wir dürfen nicht unnütze Ziele verfolgen und dürfen unsere Bemühungen nicht nutzlos verschwenden; das heißt: wir dürfen einerseits unsere Wünsche nicht auf Dinge richten, die für uns unerreichbar sind, und dürfen uns andererseits nicht in die Lage bringen, nach Durchsetzung unserer leidenschaftlichen Wünsche die Nichtigkeit derselben zu spät unter tiefer Scham einzusehen; es soll also weder unsere Arbeit vergeblich und ohne Wirkung sein, noch der Erfolg in keinem entsprechenden Verhältnis zur Mühe stehen; denn in der Regel führt es zu einer trübseligen Stimmung, wenn entweder der Erfolg überhaupt fehlt oder man sich des Erfolges nur zu schämen hat.“

In diesen Gedanken steckt der Schlüssel zur rechten Lebensführung. Man sollte sie so oft lesen, bis einem bewusst wird, wie oberflächlich und planlos und einseitig wir doch meist vor uns hinleben, wie verschwenderisch wir mit unserer Zeit, Energie und unserem Potenzial umgehen. Verehrter Leser, willst Du spüren, wozu das Leben in Dir wirklich fähig ist, und wie es sich anfühlt, Flamme zu sein? Dann überwinde das ziellose Gebahren der Herden- und Forenmenschen. Halte Dich an Senecas Worte und verschwende nicht den ganzen Tag mit sinnlosem, passivem Internet- und Medienkonsum, der keinerlei Herausforderung an Dich stellt.

„Jede Arbeit muss also irgendeinen Zweck irgendeine bestimmte Beziehung haben! Nicht der Tätigkeitstrieb setzt die Rastlosen in Bewegung; es sind die täuschenden Trugbilder der Dinge, die die Verblendeten nicht ruhen lassen; denn auch bei ihnen ist es irgendwelche Hoffnung, die zur Bewegung anregt: es reizt sie irgend ein Schaubild, dessen Nichtigkeit ihrem befangenen Geist nicht zum Bewusstsein kommt. Ohne Ausnahme gilt für alle, die ihr Haus nur verlassen, um das Straßengetümmel noch größer zu machen, das Folgende: Es sind leere und nichtige Gründe, die einen jeden von ihnen in der Stadt umherführen.“

Aber Ziele ändern sich, entpuppen sich als unerreichbar oder gar falsch

Na und? Auch hier gilt es, Ruhe zu bewahren, Sicherheit auszustrahlen und flexibel zu sein. „Wir müssen uns eine gewisse Fügsamkeit nach der Seite hin aneignen, dass wir uns nicht gar zu sehr auf das versteifen, was wir uns vorgenommen haben, sondern uns in die jeweilige Schicksalslage fügen und uns nicht bange machen lassen durch einen Wechsel, sei es unseres Entschlusses oder des Schicksals, wenn wir uns nur vor dem Fehler des Wankelmuts bewahren, diesem schlimmsten Feinde der Ruhe. Allerdings führt auch der starre Eigensinn unausbleiblich Beängstigung und Unheil mit sich, da das Schicksal ihm häufig einen Strich durch die Rechnung macht; aber der wankelmütige, hin- und herflatternde Leichtsinn ist doch noch viel schlimmer. Beides ist der Ruhe unzuträglich, sowohl wenn man nichts ändern kann, als auch wenn man jedem Leiden ausweicht.“

Wie lernt man, beide Abgründe zu vermeiden? Es kommt darauf an, was man wie gewichtet, worauf man sich konzentriert und inwiefern man in sich selbst zu ruhen vermag. „Jedenfalls aber muss die Seele, von allem Äußerlichen absehend, sich ganz in sich selbst sammeln, muss volles Vertrauen zu sich gewinnen, muss an sich selbst ihre Freude haben, muss, was ihr gehört, hoch achten, was ihrem Wesen fremd ist, möglichst von sich fernhalten und mit sich selbst in Einvernehmen bleiben, darf Verluste nicht zu schwer empfinden und muss auch das Widerwärtige so viel wie möglich zum Besten deuten.“

Zwei Anekdoten namhafter Philosophen mögen dies verdeutlichen. Zeno (der Begründer der Stoa) verlor zum Beispiel bei einem Schiffbruch all sein Hab und Gut. Sein Kommentar: „Das Schicksal will mir freiere Bahn zum Philosophieren geben.“

Oder nehmen wir Theodorus, dem ein Tyrann mit dem Tod drohte und zugleich das Begräbnis verwehrte. Was erwiderte der gute alte Theo? „Der Erfüllung Deines Wunsches steht nichts entgegen; mein bisschen Blut steht ganz zu Deiner Verfügung; und was mein Begräbnis anlangt, was ist es da doch für eine Torheit, zu glauben, es liege mir daran, ob ich auf oder unter dem Erdboden verwese.“

Nimms mit Humor

Ein leicht kynischer Einschlag mag somit auch dem Stoiker gut stehen. Denn wie soll man mit all der Niederträchtigkeit in unseren Reihen umgehen, wenn nicht mit angemessenem „Zynismus“? Selbst dort wo andere heulen, klagen und meckern.

„Wir müssen unserem Geist also die Wendung geben, dass uns alle Verirrungen des Volkes nicht verhasst, sondern lächerlich erscheinen, und müssen es mehr mit Demokrit halten als mit Heraklit.“

Dazu muss man wissen, dass Heraklit das Schmierentheater der oberflächlichen Gesellschaft nicht betrachten konnte, ohne Tränen zu vergießen – für ihn war es eine Tragödie; wohingegen Demokrit es eher als Possenspiel, als Komödie und mit amüsierter Miene verfolgte. Wir dürfen uns sicher sein, dass letzterer besser mit dieser Welt zurecht kam – die sich bis heute kaum verändert hat. Jedem kritischen Menschen bleibt selbst überlassen, wie er damit umgehen möchte. Er sollte den jeweiligen Pfad jedoch auch zu Ende denken. Der eine führt in Verzweiflung und Verbitterung, der andere ermöglicht es wenigstens, bei frohem Gemüt zu bleiben.

„So zeigt derjenige doch einen höheren Geistesschwung, der mit dem Lachen anstatt mit dem Weinen nicht an sich halten kann; denn es ist die unschuldigste Gemütserregung, der er huldigt, und nichts in diesem mächtigen Triebwerk erscheint ihm groß, nichts ernst, ja nicht einmal bedauernswert.“

Schon krass, aber das ist die Stoa. Die Lehre der Erhabenheit über den weltlichen und somit auch gesellschaftlichen Irrungen und Wirrungen. Aus der Sicht eines normalen Menschen ist das, was wir hier auf diesem drehenden Gesteinsballen, der munter um die Sonne und sich selbst rotiert, alles so machen und erleben, natürlich unheimlich bedeutend. Von höherer, über-menschlicher Warte aus jedoch – die z.B. der Kyniker ebenso wie der Stoiker anstrebt – ist all dies ebenso bedeutsam wie das, was sich gerade auf der Rückseite des Mondes abspielt. Galaktisch betrachtet hat es kaum Auswirkung, ob es die Erde nun gibt oder nicht. Was ist überhaupt von Bedeutung?

Das ist die große Frage und von ihr hängt alles weitere ab. Das ist das wahrhafte, erste philosophische Problem, das jeder Mensch für sich selbst lösen muss, um zu entscheiden, inwiefern er überhaupt leben und wie er dieses Leben gestalten will. Wird einem bewusst, wie spießig die meisten Menschen leben und wie sehr ihr Seelenfrieden davon abhängt, wie die Kaffeetassen im Schrank stehen und ob sie mehr verdienen als ihr Nachbar, dann wird auch bewusst, dass die meisten Menschen kaum über diese Frage meditiert haben.

Was Bion ausdrückt, mag für sie weltfremd und schwer nachvollziehbar klingen und ich bin mir sicher, dass auch fast jeder Leser hier einen inneren Widerwillen empfinden wird… aber von seinem über-menschlichen Standpunkt des Kynikers aus mag er recht haben, wenn er formuliert:

„Alle Betätigung der Menschen gleiche durchaus ihrem Ursprung und ihr Leben sei nicht heiliger oder ernster als ihre Empfängnis, sie sänken zurück in das Nichts, aus dem sie hervorgegangen.“

Aber stimmt das denn? Wir entwickeln uns doch beständig weiter. Neue Generationen werden geboren und… aber und nun kommt uns die Logik dazwischen: Der Tod ist die Erfindung des Lebens. Alles was lebt, wird einmal sterben. Jeder einzelne Mensch, ja selbst die Sonne wird Verglühen und spätestens, wenn unser Universum dem thermodynamischen Wärmetod, dem Zustand höchster Entropie, begegnen wird oder sich die tiefste Erkältung nicht endender Expansion einfangen wird, wird auch alles Leben sterben und dem ewigen heißen Chaos oder der nie endenden kalten Starre verfallen. Wenn das Ende gewiss und unabänderlich ist, ist es dann noch von Bedeutung, was dazwischen einmal geschehen ist? Ist der Weg von Bedeutung, wenn es eh im gleichen Ziel endet? Für den Erhabenen, den Weisen (im Sinne der Stoa) nicht, denn es ist gerade sein Pläsier, sich über solche Kleinigkeiten zu erheben.

Nichtsdestotrotz ist es natürlich von Bedeutung – aus Sicht des Betroffenen, Wegbeschreitenden. Wodurch auch die Binsenweisheit entsteht: Der Weg sei das Ziel! Auch Seneca plädiert für ein menschengerechteres Verhalten, welches sich an bestimmten Werten orientiert.

„Doch es ist besser, die öffentliche Sittlichkeit und die Fehler der Menschen mit mildem Auge anzusehen und darüber weder ins Lachen noch ins Weinen zu verfallen; denn mit fremdem Leid sich abzuquälen ist ewiges Unheil und an fremdem Unglück seine Freude zu haben, ist ein Vergnügen, das mit Menschengüte nichts zu tun hat.“

In ihrer vollen Stringenz ist die Stoa nichts für einfache Menschen und solche, die es bleiben wollen. Seneca war dies bewusst. Mit seinen Schriften gab er ihr ein menschliches Antlitz – was für viele erst einen angemessenen Zugang zu ihr schafft. Wie kompromisslos man stoisch leben will, sei jedem selbst überlassen.

Tugendhaftigkeit

…steht jedoch auch für Seneca an oberster Stelle. In der Antike waren starke Ideale wie z.B. Tapferkeit noch in dem Denken der Menschen, wo heute nur Opportunismus und Duckmäusertum geblieben sind. Wie soll man auch aufrichtig leben, wenn man erlebt, wie selbst die tugendhaftesten Menschen vom Schicksal zertreten werden wie ein Wurm vom trampeligen Bauern? Wenn es augenscheinlich keine Gerechtigkeit gibt, warum sollte man sich dann überhaupt anstrengen und tugendhaft leben, wenn man laissez fair doch so viel leichter und angenehmer, durch das eigene Dasein kommt?

Viele wissen dies nicht zu beantworten und tanzen deswegen bewusst zwischen Konsumrausch, Geltungsdrang und Genusssucht hin und her. Willkommen in unserer Welt des 21. Jahrhunderts. An diesen Menschen darf sich der Stoiker nicht orientieren – der Ungerechtigkeit zum Trotze, denn der wahre Wert eines Menschen äußere sich erst im Grad seiner Tugendhaftigkeit.

„Was soll jeder Einzelne überhaupt für sich hoffen, wenn er sieht, dass die Besten das Schlimmste über sich ergehen lassen müssen? Wie steht es also? Vergegenwärtige Dir, wie jeder von ihnen sein Schicksal getragen hat, und, sind sie tapfer gewesen, so nimm Dir ihr Beispiel zum Muster, starben sie aber weibisch und feige, so ist an ihnen nichts verloren.“

Seneca selbst steht Pate für diese Tapferkeit, nahm er doch – ebenso wie einige andere antike Philosophen – sich selbst das Leben, als es keinen würdigeren Ausweg mehr gab. Abseits vom hier behandelten Text de tranquilitate dazu zwei Passagen aus Senecas Brief über den Freitod.

„Nichts Besseres hat das ewige Gesetz geleistet, als dass es uns einen einzigen Eingang in das Leben gegeben, der Ausgänge aber viele. Ich soll warten auf einer Krankheit Grausamkeit oder eines Menschen, obwohl ich in der Lage bin, mitten durch die Qualen ins Freie zu gehen und Widerwärtiges beiseitezustoßen? Das ist das Einzige, weswegen wir über das Leben nicht klagen können: niemanden hält es. Gut steht es mit den menschlichen Belangen, weil niemand außer durch eigenes Fehlverhalten unglücklich ist. Es gefällt – lebe; es gefällt nicht – Du kannst dorthin zurückkehren, woher Du gekommen bist.“

Oder in aller Kürze: „Vorzuziehen ist der schmutzigste Tod der saubersten Knechtschaft.“

Das ist der Seneca, den ich liebe, der in unserer Mimimi-Gesellschaft jedoch kaum Gehör findet. 2000 Jahre christliches Opium fürs Volk, protestantische Arbeitsethik und Mitleid aus Prinzip, stellten Leben um jeden Preis über Tugend und Ideal. Das ist ja ganz nett, aber nett ist auch der kleine Bruder von… Seneca fand damals noch klare Worte:

„Nie werd ich einen beweinen, der freudig stirbt, nie aber auch einen beweinen, der unter Tränen stirbt; jener hat meine Tränen selbst getrocknet, dieser hat durch seine Tränen jedes Recht auf teilnehmende Tränen verwirkt.“

Ein Seneca, wie er auch dem Nietzsche gefallen hätte. Schreibt dieser doch in Also sprach Zarathustra„Ist nicht Mitleid das Kreuz, an das derjenige genagelt wird, der die Menschen liebt?“ Dabei ist der Mensch doch etwas, dass überwunden werden muss, nur ein „Seil über einem Abgrund, geknüpft zwischen Tier und Übermensch.“ Zudem ging es ihm nicht einmal darum, durch den Entzug des Mitleids, das Leiden zu verstärken. Das Gegenteil war der Fall: Für Nietzsche war es offensichtlich, dass jegliches Mit-Leiden das Leiden nur verstärkt, zementiert. Er wollte keine leidenden Menschen und schon gar nicht solche, die sich gegenseitig im Leiden festhalten. Er wollte muntere, tanzende, aufbegehrdende Menschen. Menschen, die tugendhaft lebten und sich gegenseitig bestärkten – so wie es auch Seneca hochhielt – anstatt gemeinsam zu wimmern.

Stehe zu Dir selbst

„Eine weitere, ergiebige Quelle von Ärgernissen ist die krankhafte Sucht, Dir ein erkünsteltes Aussehen zu geben und Dich niemandem in Deiner natürlichen Gestalt zu zeigen, eine nicht vereinzelte Erscheinung; denn die Zahl derer ist nicht gering, die ein Leben führen voller Verstellung und auf den prunkenden Schein berechnet.“

Wie qualvoll und anstrengend muss es doch sein, hinter einer Maskerade zu leben und doch nutzlos. Früher oder später wird man immer durchschaut. „Denn der Zufall bringt vieles mit sich, was trotz allen Widerstrebens unsere Blößen aufdeckt, und, angenommen auch, dass die beständige Achtsamkeit auf sich selbst von gutem Erfolge begleitet sei, so ist es doch kein angenehmes und sorgenfreies Leben, wenn man immer eine bestimmte Maske trägt. Dagegen die schlichte und jeden Aufputz verachtende Natürlichkeit, die keine Verschleierung des wahren Wesens kennt, wie viel Erfreuliches führt sie doch mit sich!“

Zwischen Einsamkeit und Geselligkeit

„Vielfach muss man auch in sich selbst Einkehr halten; denn der Umgang mit anders gearteten Menschen stört das erlangte innere Gleichgewicht und weckt Leidenschaften wieder auf und führt allen Schwächen und bedenklichen Rückständen der Seele neue verderbliche Nahrung zu. Doch muss man beides verbinden und miteinander abwechseln lassen, Einsamkeit und Geselligkeit. Wie die erste in uns die Sehnsucht nach Menschen weckt, so die letztere die Sehnsucht nach uns selbst, und beide werden einander hilfreich ergänzen; den Hass gegen das Menschengetümmel wird die Einsamkeit heilen, den Überdruss an der Einsamkeit das Menschengetümmel.“

Erheiternde Abwechslung schaffen

Seneca war keineswegs ein trockener Spießer. Ihm war bewusst, dass kein weiser Mensch sich völlig von einem lockeren und spaßigen Verhältnis zur Gesellschaft verabschieden und im Elfenbeiturm verkümmern würde.

„Man darf den Geist nicht in unausgesetzt gleichmäßiger Anspannung halten, sondern muss ihm auch Erheiterung schaffen. Sokrates schämte sich nicht, mit Knaben zu spielen, und Cato pflegte beim Glase Wein die drückenden staatlichen Sorgen von sich zu schütteln und Scipio, der Triumphator und Held, hielt seinen Körper nicht für zu vornehm, um ihn nach dem Takt des Tanzes zu bewegen, nicht mit gesuchter Zierlichkeit, wie es jetzt üblich ist bei den Modehelden, die schon in ihrem Gange eine mehr als weibische Weichlichkeit verraten, sondern nach dem Muster der Männer der alten Zeit, die bei Spiel und Festfeier nach Männerart den Boden zu stampfen pflegten, ohne befürchten zu müssen an Achtung zu verlieren und hätten sie auch ihre Feinde zu Zuschauern. Der Geist fordert Erholung; hat er sich ausgeruht, so wird er sich um so kräftiger und regsamer erheben.“

Manches ändert sich scheinbar nie und Metros gab es wohl auch damals bereits. Auch sei erwähnt, dass körperliche Betätigung die beste Abwechslung zur geistigen sei. Selbst Seneca weist in einer seiner Schriften darauf hin, dass er – eigentlich Verächter des Körpers – regelmäßig sportlich aktiv wird, da sich der Nutzen auch für den Geist nicht verhehlen lässt. Ebenso spricht er dies einer gemäßigten Trinkerei zu.

„Denn der Wein spült die Sorgen weg, greift tief ein ins Gemüt und ist ein Mittel wie gegen manche Krankheiten, so auch gegen den Trübsinn und der Erfinder des Weines ist Liber [lateinisch für „frei“] genannt worden, nicht wegen der Ungebundenheit der Zunge, sondern weil er die Seele erlöst von der Knechtschaft der Sorgen, sie frei macht, belebt und ihr frischen Mut gibt zu jedem Vorhaben. Doch Mäßigung ist heilsam wie in der Freiheit so auch beim Weine.“

Hier wird Seneca schon sehr tolerant, bestrebt darin, die Stoa in ein menschlicheres Gewand zu kleiden, ja einen Kompromiss zu finden. Deswegen habe ich auch de tranquilitate ausgewählt, da dieser Text einer seiner liberalsten ist. Für den Einstieg gerade recht. Zudem hat er große Fürsprecher für dieses abschließende Plädoyer der Ausgelassenheit. Sagte nicht bereits Platon„Vergebens klopft, wer völlig nüchtern ist, an der Musenpforte an“ oder Aristoteles„Kein großer Geist war ohne Beimischung von Tollheit.“

So endet auch Seneca

„Nur der stark erregte Geist vermag etwas überragend Großes auszusprechen. Blickt er verächtlich herab auf das Gewöhnliche und Alltägliche und erhebt sich in begeistertem Aufschwung zu größerer Höhe, dann erst künden seine Lippen Größeres als ein sterblicher Mund. Nichts Erhabenes und auf der Höhe Thronendes kann er erreichen, solange er bei sich selbst ist. Losreissen muss er sich von der nüchternen Gewohnheit, sich aufschwingen und in die Zügel knirschen, den Lenker mit sich fortreissen und ihn dahin bringen, wohin er auf eigene Faust sich nie getraut hätte zu gelangen.“

Ein Appell zur Überwindung des eigenen Selbst – ein notwendiger Schritt auf dem Weg zur Unerschütterlichkeit. Dem Ideal, welches zu Beginn unserer Auseinandersetzung stand – in Form des wankelmütigen Serenus. Nun mag er bekommen haben, was ihm zur Gemütsruhe noch fehlen mag. „Doch wisse, dass dies alles nicht stark genug ist, wenn nicht angestrengte und beständige Achtsamkeit das wankende Gemüt überwacht.“

Dieser Artikel

…mag etwas länger ausgefallen sein, dennoch verdeutlicht er in komprimierter Form, wie Seneca zu denken pflegte. Der Ausgangs-Text selbst erstreckt sich über 46 eng gedruckte Buchseiten. Ich hoffe, ich konnte Dir – lieber Leser – zumindest die grundlegenden Gedanken daraus näher bringen.

Wer selbst Interesse an einer weiterführenden Auseinandersetzung mit Seneca hat, dem sei die Vollständige Studienausgabe vom marix verlag empfohlen: Philosophische Schriften. Dialoge. Briefe an Lucilius.Insbesondere seine Briefe an Lucilius sind lesenswert und zeitlos. Ein angemessener und deutlich abgespeckter Überblick lässt sich für ein paar Euro in Form dieses Buches erwerben: Handbuch des glücklichen Lebens: Philosophische Schriften

Ein paar Hintergrundinformationen

Das Wesen der antiken, hellenistischen Philosophie strebte nach der sog. Eudämonie – was so viel bedeutet, wie dass man einen guten Dämon hat bzw. von einem guten Geist besessen ist. Wir übersetzen es am besten mit Glücklichsein oder Erfüllung.

Ähnlich der Flow-Theorie von Csikszentmihalyi sind sie der Ansicht, dass Unglücklichsein durch Unordnung im Geiste entsteht und auch nur durch einen geordneten Geist behoben werden könne. Diese Privatisierung des Glücks befindet sich in starkem Kontrast zu einer früheren antiken Glückstheorie – wie sie z.B. von Aristoteles vertreten wurde: Ihm zufolge sei ein jeder Mensch dann im Zustand der Eudämonie, wenn er seinen naturgesetzten Zweck erfülle – also wenn der Schuster oder Schmied sein Handwerk ausführe, der Politiker im Senat rede und der Priester seinem Kult fröhne.

Das bringt jedoch Probleme mit sich: Verwehrt einem das Schicksal (also widrige Umstände) die Ausübung, so könne man nie wirklich glücklich werden. Zudem ist das eine sehr starre Auffassung von Vorherbestimmung und Erfüllung und das größte Manko: Das würde ja automatisch bedeuten, dass jeder glücklich ist, der seinem Beruf nachgehen kann – unabhängig davon, wie er sich wirklich fühlt. Was aber augenscheinlich bei fast niemandem der Fall ist.

Die Hellenisten – wie z.B. die Stoiker, Epikureer und Skeptiker – drehten den Spieß um und entschieden: Was in der Welt da draußen geschehen mag, ist für unser Glücksempfinden sekundär. Primär ist unsere innere Einstellung dazu. Deswegen vermag ein Straßenkehrer im Flow glücklicher zu sein als der millionenschwere Manager, der seine Familie nie sieht.

Die Stoiker gingen am radikalsten an die Privatisierung des Glücks heran. Für sie waren einzig die Tugenden von Bedeutung und alles andere – ja selbst Gesundheit, Reichtum und Tod – waren für sie Adiaphora, also Nebensächlichkeiten, Aspekte des Lebens für die man sich selbst und die eigene Tugendhaftigkeit nicht verraten dürfe. Einzig die Vernunft (lat. ratio) sei maßgebend.

Die Epikureer erkannten für sich, dass alles Leben eine grundlegend emotionale Komponente birgt und das Eudämonie nur dann eintreten kann, wenn man nicht nur tugendhaft lebt, sondern sich auch gut dabei fühlt. Sie waren die Begründer des Hedonismus – der in der Moderne meist falsch verstanden wird. Dabei ging es keineswegs um ein ausschweifendes Dasein mit Wein, Weib und Gesang. Vielmehr bedeutete für die Epikureer „Lust“ einfach nur die Abwesenheit von Leid. Alles darüber hinaus – also das Hecheln nach zusätzlichen Genüssen – gehörte für sie bereits schon in das Reich der Adiaphora. Entgegen der landläufigen Meinung handelte es sich um sehr tugendhafte und aufrichtige Philosophen, die nicht die Vernunft, sondern das Gefühl (lat. emotio) als maßgebend betrachteten – wodurch sie als Gegner der Stoiker aufs Parkett traten.

Die Skeptiker verfolgten den homo mensura-Satz des Pythagoras, nach dem der Mensch das Maß aller Dinge sei. Für sie gibt es keine objektiven, wahren Aussagen. Alles sei subjektiv und hänge vom Blickwinkel ab. Ihr maßgebendes Werkzeug war der Zweifel. Wie sie zur Eudämonie gelangten, vermag am besten einer der Begründer der Skepsis zu sagen, nämlich Pyrrhon von Elis.

Skepsis ist die Kunst, auf alle mögliche Weise erscheinende und gedachte Dinge einander entgegen zu setzen, von da aus wir wegen der Gleichwertigkeit der entgegengesetzten Sachen und Argumente zuerst zur Zurückhaltung, danach zur Seelenruhe gelangen.

Ein Hauch von Interpretation

Die subjektiven, hellenistischen Philosophen sahen das persönliche Unglück also in einem unvernünftigen, gefühllosen oder irrtümlich an scheinbare Wahrheiten glaubenden Leben begründet. Sie bezeichneten derartige Verfehlungen als Affekte, die den Geist in Unordnung versetzen. Deswegen sei Affektfreiheit anzustreben.

Die Epikureer verglichen einen unerfüllten, unordentlichen Geist mit der aufgepeitschten See. Der betroffene Mensch sei wankelmütig und von den Leidenschaften hin und hergerissen, könne nicht zur Ruhe kommen, dietranquilitate animi liege weit entfernt. Der glückliche Geist hingegen gleiche einer spiegelglatten (passiven) Meeresoberfläche.

Die Stoiker verwendeten ein schöneres, aktiveres Bild. Nämlich das vom Wohlfluss des Lebens. Affekte stören ihn. Sie sind wie Untiefen, Strudel, Hindernisse und Verwirbelungen, die uns von unserem eigenen Weg abbringen und uns daran hindern, uns auf das Wesentliche zu konzentrieren – also all die Dinge, Verhaltensweisen und irrigen Gedanken, die uns mehr ausbremsen und ablenken, denn uns in Ruhe und in unserem natürlichen Rhythmus fließen zu lassen.

Wenn denn die Eudämonie in der Erfüllung aller selbstgesetzten Zwecke, also aller eigenen Bedürfnisse liegt, dann gibt es zwei Wege, um sie zu erlangen: das Erfüllen aller Bedürfnisse oder das Haushalten mit den eigenen Bedürfnissen.

Heutzutage verfolgen wir den ersten Weg und streben danach, unsere Bedürfnisse so gut es geht zu erfüllen – ein voller Kühlschrank, beste Kleidung, ein neues Auto, Haus und die Karriere muss natürlich auch passen. Darin liegt enorm viel Abhängigkeit begründet und das Problem dabei: Sich ungezügelt entfaltende Bedürfnisse sind ein Fass ohne Boden. Die Bedürfnisse eines modernen Menschen wachsen mit seinem Lebensstandard – von dem er immer stärker abhängig wird. Geht es mal bergab, fällt man scheinbar tief, ins gesellschaftliche Abseits. Doch das ist einerseits Blödsinn und andererseits ist eines offensichtlich: So wird man nie glücklich, denn kaum hat man etwas, will man schon wieder etwas anderes. Die Bedürfnisse spielen Katz und Maus mit uns und wir merken es nicht einmal.

Lohnenswert ist es, sich die soeben vorgestellten Philosophien vor Augen zu führen. Sie bieten eine reelle Alternative: Das Haushalten mit den eigenen Bedürfnissen. Arm ist nicht wer wenig hat, sondern wer mehr haben will. Oder anders formuliert: Wer sich alles leisten kann, ist reich. Wer auf alles verzichten kann, ist reicher.

Seneca liefert mit de tranquilitate animi einen verständlichen Einstieg in eine solche Bedürfnisökonomie: der einzige Weg in vollkommene Glückseligkeit liege in der Selbstbeherrschung. Recht hat er!

Dieser Artikel ist ein Gastbetrag von Dr. Christian Zippel, Autor von Der Wille zur Kraft, HFT – Hochfrequenztraining & Auto-Regulation und rosenrot – oder die Illusion der Wirklichkeit.

Bilderquelle: enggul