Haben wir ihn oder haben wir ihn nicht, den freien Willen? In letzter Zeit brennen immer mehr Diskussion zum Thema auf und nicht wenige bezweifeln die Existenz eines freien Willens. Angeheizt werden derartige Gedanken durch verschiedene psychologische Experimente, die zeigen, dass spezielle Gehirnströme schon vor der bewussten Entscheidung zu messen sind. So konnte in einem Experiment des Londoner Neurophysiologen Prof. Patrick Haggard in Zusammenarbeit mit dem deutschen Psychologen Dr. Martin Eimer gezeigt werden, dass sich eine simple Entscheidung schon vor dem bewussten Entschluss anhand der Gehirnströme voraussagen lässt.
In besagtem Experiment mussten sich Testpersonen entscheiden, ob sie mit der linken oder der rechten Hand einen Knopf drücken wollten. Sie sollten auch angeben, wann sie den Beschluss bewusst gefasst haben. Anhand der Hirnstrommessungen wurde gezeigt, das Gehirn reagiert schon vor dem bewussten Willensentschluss.
Es gibt weitere Experimente, die derartige Erkenntnisse ebenfalls erzielen konnten. Die Frage ist nun: Was bedeutet das? Gibt es keinen freien Willen? Sind wir nichts anderes als das Produkt unserer Erfahrungen? Nehmen wir nur für einen kurzen Augenblick einmal an, es gäbe tatsächlich keinen freien Willen.

Was wären die Konsequenzen?

Niemand könnte noch für irgendetwas verantwortlich gemacht werden. Massenmörder und andere Verbrecher wären ebenso wenig für ihre Taten verantwortlich wie gutmütige Spender und ehrenamtliche Helfer. Ob gut oder schlecht – niemand wäre für irgendeine Handlung verantwortlich. Denn anscheinend werden Entscheidungen nicht von uns, sondern vom Gehirn getroffen.

Unser gesamtes strafrechtliches System würde nicht mehr funktionieren, denn wie könnte man jemanden verurteilen, wenn er selbst keine Schuld trägt?
Denken Sie nun einmal kurz an Fehltritte, die Sie in der Vergangenheit begangen haben. Vielleicht ein kleiner Ladendiebstahl als Kind, vielleicht auch Mobbing oder Drogenmissbrauch in der Jugend – einfach irgendetwas, das sie heute als falsch ansehen und bereuen. Fühlen Sie das Schuldbewusstsein und die damit einhergehende Scham.
Und nun das Ganze noch einmal, aber diesmal unter der Annahme, es gäbe keinen freien Willen. Sie sind für Ihre Fehltritte nicht verantwortlich. Es war unschön, aber Sie können nichts dafür. Sie waren es nicht. Fühlen Sie die Erleichterung? Die Befreiung? Als ob jegliche Last von Ihnen fällt.
Man kann das Leben genießen und muss sich keine Sorgen mehr machen, denn egal was passiert, man trägt keine Verantwortung. Man ist das Opfer seiner Vergangenheit, auf die man ebenfalls keinen Einfluss hatte. Die Verantwortung trägt „eine höhere Macht“.

Ein kleiner Ausflug in die Welt des Kraftsports

„Ich weiß einfach nicht mehr weiter, egal wie viel ich esse, ich nehme einfach nicht zu!“ oder auch: Ich bin ein Opfer meiner Gene. Kommt das bekannt vor? Seit ich mich in der Trainingswelt aufhalte, höre und lese ich immer wieder von „Hardgainern“, jenen Menschen, die von Natur aus einen sehr schnellen Stoffwechsel haben und nicht zunehmen – weder Fett noch Muskeln. Diese Menschen sind in der Regel sehr schmächtig. Sie suchen nach Hilfe und immer wieder wird betont, wie viel sie doch essen und sich trotzdem nichts tut.
Erkennen Sie die Verbindung? Es wird bereitwillig die Opferrolle eingenommen. Man würde ja gerne, man hat die besten Absichten, aber die Gene, also Umstände, die sich dem eigenen Einfluss entziehen, haben letztlich das Sagen und machen einen Strich durch die Rechnung. Auf der anderen Seite sieht man dieses Phänomen natürlich auch bei denjenigen, die übergewichtig sind und Probleme damit haben abzunehmen. „Ich esse schon so wenig – andere können viel mehr essen ohne dick zu werden! Mein Körper nimmt einfach sehr schnell zu.“ Die Opferrolle.

Der tricksende Verstand

Die unsinnige Debatte über den freien Willen führe ich genau darauf zurück. Viele Verfechter der „Es gibt keinen freien Willen“-Theorie klammern sich an bestimmte Experimente, weil sie selbst mit der Schuld, die sie sich in ihrem Leben aufgeladen haben und möglicherweise noch immer aufladen, nicht klar kommen. Der menschliche Verstand ist so gebaut. Wir haben immer den Drang, eigenes Versagen herauszureden und die Verantwortung so gut wie irgend möglich abzuschieben. Ausreden sind unsere besten Freunde, denn sie bewahren uns vor dem zerdrückenden Gefühl des Versagens und der Schuld.
„Ich würde ja gerne mehr Sport treiben, aber momentan mit all dem Stress auf Arbeit ist es ganz schlecht“ – „Nächste Woche höre ich dann mit Rauchen auf, aber diese Woche genieße ich es nochmal, schließlich habe ich es mir nach all dem Prüfungsstress verdient“ – „Ich möchte mich schon gesünder ernähren, aber ich habe einfach keine Zeit zum Kochen“
Das sind sie, unsere berühmtesten Ausreden. „Ich habe keine Zeit“ ist der Klassiker unter ihnen. Alleine schon die Formulierung dieser Aussage soll Schuld von uns nehmen. Denn sind wir mal ehrlich: Jeder von uns hat genau 24 Stunden am Tag zur Verfügung und wenn jemand keine Zeit für etwas hat, steht es in Wahrheit auf seiner Prioritätenliste einfach nicht weit genug oben, um sich Zeit dafür zu nehmen. Statt aber zu sagen „Dafür möchte ich mir keine Zeit nehmen“ wird „Ich habe keine Zeit“ gesagt, als ob irgendeine überirdische Macht die Verantwortung dafür tragen würde und man selbst keinen Einfluss darauf hätte.

Sehen wir den Tatsachen ins Auge…

Wir wollen einfach nur Verantwortung von uns nehmen. Doch ist das der falsche Weg, denn wer sich der Verantwortung entzieht, ändert nichts an seiner Lage und man kann es sich noch so schön reden: Unbewusst wird eine Schwäche immer am Gemüt nagen. „Positiv“ Denken haut einfach nicht hin, wenn damit die Wahrheit verleugnet wird, denn es gibt immer einen Teil im Unterbewusstsein, der die Wahrheit kennt.
Erfüllung und Glück basieren im Sinne der Evolution auf Wachstum und Entwicklung. Es vermag aber nur zu wachsen, wer die Realität und seine Verantwortung erkennt, denn nur dann kann der Entschluss gefasst werden, die Dinge zu ändern, die der Erfüllung im Wege stehen. Wer beispielsweise seine Verantwortung am eigenen Übergewicht leugnet, kann auch nichts daran ändern und wird für immer mit dieser Schwäche leben müssen.
Der richtige Weg liegt dabei häufig auf der Hand. Der Hardgainer, der nicht zunimmt, muss mehr essen. Keine Ausreden, keine ausschweifenden Erklärungen – wer nach ein paar Wochen keinen Gewichtszuwachs erzielt, isst zu wenig. Es interessiert dabei überhaupt nicht, wie viel andere essen, das einzige was wirklich zählt, ist, dass selbst mehr gegessen wird.
Der Übergewichtige ernährt sich falsch und bewegt sich zu wenig. Das ist die schlichte Wahrheit, die es zu erkennen gilt. Die Verantwortung für seine derzeitige Lage zu übernehmen ist der erste und wichtigste Schritt auf dem Weg der Entwicklung.
Das beste Beispiel dafür wie es richtig gemacht wird, ist die unglaubliche Geschichte des Kyle Maynard. Kyle ist ein junger amerikanischer Mann mit einer körperlichen Besonderheit: Von Geburt an fehlen ihm Hände, Füße, Unterarme und Waden. Eine unglaubliche Beeinträchtigung im Leben! Für die meisten Menschen ein unvorstellbares Szenario – wie kann man mit einem derartigen körperlichen Defizit überhaupt ein ansprechendes Leben führen, Dinge bewegen, Leistung erbringen und glücklich sein? Indem man nicht nach Ausreden, sondern nach Wegen sucht. Statt mit seinem Schicksal zu hadern, macht Kyle das Beste daraus.
Als kleiner Junge hat er Football gespielt und mit dem Wrestling begonnen. Mit der Zeit musste er Football aufgrund seines Größendefizits aufgeben. Eine Tür schließt sich und im Gegenzug öffnet sich eine andere. Kyle nutzte die Chance und konzentrierte sich mehr denn je auf das Wrestling. Er wollte State Champion werden und gab alles für seinen Traum. Was viele unter uns von vorneherein kategorisch ausschließen würden war für Kyle nichts anderes als eine Hürde, die es auf der Entwicklungsleiter des Lebens zu überwinden galt.. Niederlage um Niederlage attackierten sein Selbstbewusstsein, doch Kyle gab nicht auf. Er hatte einen Traum und für diesen wollte er alles geben. Er intensivierte sein Training, lernte aus Fehlern und so kam es, dass er nach 35 Niederlagen endlich seinen ersten Sieg errang. In der Folgezeit wurde er immer besser und erntete jede Menge Respekt auch für seine tollen Leistungen beim State Championship. Sehen Sie selbst:

Auch wenn er sich seinen Traum State Champion zu werden nicht erfüllen konnte, ist Kyle zu einem charakterstarken und leidenschaftlichen Menschen gereift. Seine Botschaft „No Excuses“ trägt er seitdem in Form von Fernsehauftritten und seiner gleichnamigen Biographie in die Welt.
Trotz seiner körperlichen Behinderung wurde Kyle zu einem starken Wrestler, lernte schreiben, absolvierte ein Studium, bestieg den Kilimandscharo und erreichte zahlreiche andere Dinge, von denen viele körperlich „gesunde“ Menschen nur träumen können. Das alles konnte er nur erreichen, weil er nicht jammerte und nach Ausreden suchte, sondern selbst Verantwortung für sein Leben übernahm.

Wenn ein Mensch mit einer unfassbaren körperlichen Beeinträchtigung dennoch sein Leben meistert und Unglaubliches vollbringt, wie können wir dann nicht einmal genügend Selbstüberwindung aufbringen, um uns regelmäßig sportlich zu betätigen und gesund zu leben? „Steak und Nüsse würde ich morgens überhaupt nicht runterbekommen“, „Gemüse finde ich widerlich“, „Ich könnte niemals nur Wasser trinken“, „Sport ist mir zu anstrengend“, „Ich schaffe es nicht mit dem Rauchen aufzuhören“, „Fürs Fitnessstudio fehlt mir einfach die Zeit“ – Hallo, geht’s noch?! Wenn jemand ohne Arme und Beine einen riesigen Berg hochklettern, Gewichte stemmen und Kampfsporttraining absolvieren kann, dann können wir verdammt nochmal auch regelmäßig trainieren, uns sauber ernähren und die Kontrolle über unser Leben übernehmen. Kyle Maynard zeigt uns wie es gemacht wird. Jedes Mal wenn wir glauben etwas nicht tun zu können oder von den Umständen beherrscht zu werden, können wir uns an Kyle Maynard und daran, was ein Mensch alles erreichen kann, wenn er bereit ist die Verantwortung für sein Leben zu übernehmen und seine Trägheit zu überwinden, erinnern.

Aber wenn es keinen freien Willen gibt…?!

Natürlich gibt es den! Wenn wir die Sache mal etwas nüchterner betrachten: Was genau sagen denn die weiter oben genannten Experimente, die beweisen sollen, dass es keinen freien Willen gibt, tatsächlich aus? Ja, das Gehirn weist schon ein paar Millisekunden vorher in den entsprechenden Bereichen eine gewisse Aktivität auf – na und? Was bitte soll das beweisen? Im Gehirn muss selbstverständlich erst einmal ein Aktionspotenzial geschaffen werden, ehe eine bestimmte Bewegung ausgeführt werden kann. Wenn ich Ihnen jetzt sage, Sie sollen eine Kniebeuge ausführen, dann müssen Sie im Gehirn zunächst den Bewegungsablauf durchgehen, ehe er tatsächlich ausgeführt werden kann. Bei einfachen und routinemäßigen Bewegungen geschieht dies unbewusst.
Mit anderen Worten: Ehe Sie bewusst entscheiden, jetzt mit der rechten Hand auf einen Knopf zu drücken, muss das Gehirn zunächst den Bewegungsablauf durchgehen, um die entsprechend koordinativen Signale herausschicken zu können. Aber warum um alles in der Welt soll das bedeuten, es gibt keinen freien Willen? Für mich steht zweifelsohne fest, dass es diesen gibt. Warum sonst fühlen wir immer mal wieder einen Kampf Bewusstsein gegen Unterbewusstsein?

Beispielsweise entdecken wir eine Tafel Schokolade, die wir als kleine Kinder sehr gerne gegessen haben und mit der wir glückliche Erinnerung verbinden. In diesem Augenblick macht sich bei uns sofort Verlangen nach der Schokolade breit, denn im Unterbewusstsein ist einprogrammiert, dass sie glücklich macht. Doch dann schaltet sich das Bewusstsein ein. Eigentlich sind wir ja gerade in der Diät und wollen Abnehmen. Das Verlangen ist noch da, doch das Bewusstsein kämpft dagegen an und wenn Selbstüberwindung und Disziplin groß genug sind, vermag es das Unterbewusstsein zu besiegen.
Daher machen wir uns jetzt hier ein für alle Male klar: Wir allein tragen die Verantwortung für unser Leben und wir allein können es in eine entsprechende Richtung lenken. No Excuses!

Kyle Maynard No Excuses

(Bild 1: Dieter Schütz  / pixelio.de | Bild 2:  FtCarsonPAO )